Das Duell – wer ist der dritte Mann?

Verehrter Bellinger,

es ist mir gelungen, mehr über das unglückselige Duell herauszufinden. Noch war ich nicht in Stillvelde, aber ein paar Kontakte hier haben mir die Augen geöffnet: es muss einen dritten Mann gegeben haben!

Doch überzeugen Sie sich selbst:

Bestimmt haben Sie denselben Verdacht wie ich. Die anderen wurden bereits informiert. Ich bin auf der Hut. Bald mehr,

ihre A.

Adele 5 Tage in Berlin

Verehrter Bellinger,

vielen Dank für den Hinweis zum Schlüssel, ich werde mir die Wappen der Adelsfamilien, die an der Pépinière studiert haben genauer ansehen. Ich mutmaße auch, daß Johan an der Pépinière selbst jemanden suchte, von dem er nicht erkannt werden wollte. Werde in den nächsten Tagen einen Abstecher nach Stillvelde machen, vielleicht lebt seine Familie dort noch.

Heute Abend treffe ich zuerst noch L., sie könnte etwas über den privaten Johan wissen.  Hellemann hat außerdem groß die Ankunft einer gewissen Lois Rosine angekündigt – das klingt wie einer seiner Scherze, aber ich werde mit ihm mitgehen, wie immer als Andrew (obwohl er Adele inzwischen kennengelernt hat). Warten Sie in den nächsten Tagen nicht auf weitere Post von mir, Stillvelde liegt im tiefsten Nimmerleinsland

Auf dem Sprung, ihre A.

Johans Lehrer Rudolf Virchow

Rudolf Ludwig Karl Virchow, *1821

Rudolf Virchow

Wer hätte gedacht, daß Johan tatsächlich ein solch guter Student war! Rudolf Virchow, obwohl mittlerweile stolze 79 Jahre alt, konnte sich noch bestens an Johan „Breuch“ erinnern – unter diesem Namen schrieb sich von Riepenbreuch Ende 1889 an der Pépinière ein. Er ließ JvR sogar an seine speziellen Sammlerstücke ran, die seit 1899 im Pathologischen Museum ausgestellt sind.

Er sei ein bemerkenswerter Zeichner gewesen, erzählte Virchow auch. Ein paar seiner anatomischen Zeichnungen habe er noch irgendwo – vielleicht kann ich ihn nochmals treffen und ihn um einen Blick auf die Werke bitten, für Das wilde Dutzend sehr interessant. Trotz dieses Talents habe er ihn auf die Photographie verwiesen „für gewisse pathologische Belege unersetzlich“ meinte der große alte Mann. Ein sehr fortschrittlicher Mediziner, schade, daß er wohl nicht mehr nach Amerika kommen wird.

Weshalb von Riepenbreuch verschwand konnte er mir leider auch nicht sagen; am Abend fünf Stunden zuvor fand ein umstrittenes Duell statt, bei dem ein sehr bekannter Offizier und ehemaliger Student der Pépinière umkam. Ob Johan an diesem Duell beteiligt war? Mußte er deswegen fliehen? Auch die Namensänderung ist mir noch ein Rätsel: von wem wollte er nicht erkannt werden?

Nun, ich muß sehen in dieser Richtung noch weitere Hinweise zu sammeln. Doch zuerst muß ich versuchen L. zu treffen, und herauszufinden, bei wem JvR die Photographie erlernte. Ein Empfehlungsschreiben für Zille habe ich mir von Virchow geben lassen, selbst wenn er Johan nicht kannte, so weiß er vielleicht bei welchem Photographen ich weiterfragen kann.

Je mehr ich über Johan erfahre, desto rätselhafter wird sein Schicksal. So viele Fluchten in so kurzer Zeit, ich frage mich wirklich, was und wer dahinter steckt. Ich habe allen, die ich bislang traf auch das Symbolblatt gezeigt, das mir aus London geschickt wurde, doch keiner konnte etwas mit dem Schlüssel anfangen.

Die Pépinière

Lieber Bellinger,

das „Frischlingsritual“ an der Pépinière war wie erwartet widerlich. Mit verbundenen Augen mußten die Erstsemester Menschen operieren – zumindest wurde ihnen das erzählt, als sie beherzt oder hasenfüßig begannen, in das Fleisch unter den weißen Laken zu schneiden.

Pépinière Studierzimmer um 1900

Pépinière Studierzimmer um 1900

In der Eingangshalle an der Friedrichstraße 139 war ein langes Alkoholbüffet aufgebaut, an dem sich alle Mut antrinken sollten, wie der Vorsitzende des Corps, ein Viertsemester mit Schmiß aasig lächelnd vorschlug.

Danach wurden sie in 3er Gruppen in einen hinter der Galerie gelegenen Raum geführt, von wo die älteren Jahrgänge und Gäste wie wir zusehen durften, wie selbst die Mutigsten spätestens dann einknickten, als ihre vermeintlichen Operationsopfer anfingen zu schreien. In Wahrheit verbargen sich natürlich Schweinehälften unter den Laken und andere Studenten schrien, um die Erstsemester zu verunsichern.

Es gelang mir jedenfalls, mir Johans Akte unter den Nagel zu reißen – allerdings wurde ich erwischt und mußte mit Hellemann gemeinsam fliehen. Offengestanden gibt es noch eine kleine zeitliche Lücke, wir erwachten heute Morgen unter der Friedrichsbrücke, mein Anzug ist stark mitgenommen, sonst ist aber alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen, Bellinger!

Hellemann dürfte außerdem verstanden haben, daß Andrew Downing nur mein Alter Ego ist, ein Wagnis, das ich eingehen mußte. Aus der Akte (übrigens unter dem Namen Johan Breuch) ging nicht allzuviel hervor. Ein sehr talentierter Student, der 1891 urplötzlich verschwand – nachdem er Rudolf Virchow nachhaltig beeindruckt hatte. Virchow werde ich gleich noch treffen, Hellemann kennt ihn (natürlich…), und er hält jetzt einen Vortrag über „Die Medizin, die Scharlatane und das Nutzen von überprüfbaren Wissen“. Wir müssen los!

A.

Maximiliano

Die Destillation ist nicht weit vom Hotel gelegen, ein wahres Paradies für alle Freunde eines guten und gehaltvollen Tropfens. Hellemann ist hier Stammgast – kein Wunder. Er stand bereits an der Theke und begrüßte mich mit einem lauten „Andrew, kannst Du wieder geradeaus laufen, haha! Darf ich Dir Maximiliano vorstellen“, Maximiliano, medizinischer Assistent an der Pépinièreund damit klopfte er einem feingliedrigen jungen Mann so kräftig auf die Schultern, daß dieser sich an der Theke abstützen musste, um nicht mit dem Kinn auf den Gläsern zu landen.

Es dauerte etwas, bis er sich von der forschen Vorstellung erholt hatte, dann revanchierte er sich mit leisen ironischen Spitzen bei Hellemann. Man würde ihm gar nicht zutrauen Hellemanns Bilder-Verkäufer unter den doch eher als handfester verschrieenen Medizinstudenten an der Militärakademie zu sein. Doch vielleicht liegt genau darin sein Erfolgsrezept. Als medizinischer Assistent ist er jedenfalls auf den kleinen Nebenverdienst angewiesen, da er sich nicht – wie viele der Studenten – für den Armeedienst verpflichten will und daher keinen Anspruch auf ein staatliches Stipendium hat.

Ich weihte beide nur ganz ungefähr in mein Vorhaben ein. Sie wissen, daß ich auf der Spur eines ehemaligen Pépinière-Studentens bin, der 1899 aus London verschwand. Ohne mich festzulegen erwähnte ich eine unglückliche Liebschaft,  so daß beide nun denken müssen, er sei vielleicht vom Werther-Syndrom dahingerafft worden. Besser, ich belasse sie vorläufig in diesem Glauben…

Heute abend werde ich mit beiden zu einer „Frischlingstaufe“ an der Pépinière gehen – das Treffen mit L. versuche ich nachzuholen.

Adele und Hellemann im Herrenklub

Der erste Tag

Dieses Billet wurde gestern Nacht noch an der Rezeption für mich abgegeben:

A.Downing
Pension Circus

Sehr geehrter Herr Downing,

wir konnten uns gestern nicht unterhalten, ein Herr, den man nicht warten lässt, Sie verstehen sicherlich. Kommen Sie heute Abend wieder, selbe Zeit, selber Ort. Ich weiß, was Sie suchen.

L.

Ob L. die Dame ist, die so schnell aus dem Herrenklub verschwand, in dem ich mich mit dem Bildhauer traf? Sollte sie wiedersehen, sie erinnerte mich mit ihrer Haltung und ungewöhnlichen Frisur sehr an Johans Beschreibung seiner Geliebten.

Mein Kopf ist eine einzige Plage heute!

Adele und Hellemann im HerrenklubDieser Hellemann mit seinem Absinth! Und all die Bildchen, die er mir aufdrängen wollte, kaum hatte ich ihm erzählt, daß ich Fotografen suche. Johan kannte er nicht, sonst aber alle und jeden.  Hellemann „Nenn mich Ernst, mein Freund!“ hielt mich erst auch für einen dieser liederlichen Kerle, die bei Fotografien nur an Schlüpfrigkeiten denken. Muss mich dennoch erneut mit ihm verabreden, sein Kontakt zur Pépinière ist zu gut. Ein Spieler namens Ronnburg oder Ronneberg verkauft dort seine Bildchen an die Studenten. „Meine besten Kunden!“ hat er stolz geprahlt.

Wir sind später an der Destillation Destillation Ecke Amalienstraße, Heinrich Zille Bildverabredet, dort will er mir einen der jungen Doktoren vorstellen, Maximiliano heißt er, glaube ich. Hoffentlich kann er mir Zugang zur Schule verschaffen, wenn ich Hundrieser und seinen Vetter dazuhole dürfte alles gut gehen.

Zeit, einen Stadtplan zu organisieren…

Blick vom Rosenthaler Platz, das Circus ist gegenüber vom Zigarrenladen

Ankunft in Berlin

Verehrter Freund,
Ihr Tipp war – wie immer Gold wert. Wie der Name vermuten lässt, tummeln sich in der Pension Circus die verschiedensten Gestalten, Künstler, Lebenskünstler, zukünftige Intellektuelle. Seit die Wandermenagerie nun scheinbar auch hier in Deutschland in Mode gekommen sind, bleiben die bärtige Damen, Magier und Kunstschützen jedoch leider großentheils nicht länger als ein paar Tage, auf dem Weg zu der nächsten Sideshow.

Blick vom Rosenthaler Platz, das Circus ist gegenüber vom Cigarrenladen(Bitte übersenden Sie mein Dankeschön für ihre Aufzeichnungen an MillieChristine MacKoy, den Aufenthaltsort des Arztes habe ich bereits ausfindig gemacht). Ein Kommen und Gehen und sich Treibenlassen ist hier, sodaß weder ich als Adele, allein stehende Dame aus Übersee auffalle, noch unser discreter Freund Andrew Downing, der, ganz wie Ihnen versprochen, bei Nachteinfall mein Zimmer verlässt, um unsere Geschäfte voranzuthreiben. Wir haben Hundrieser gesehen, er weiß, ihm bleibt nichts als uns zu unterstützen (so dankbar ist er, daß wir bereit sind, die Sasse-Geschichte für uns zu behalten). Sein Vetter ist Künstler, wie er. Nur in Metallwesen für kleinere Gegenstände. Ich werde ihm meinem Freund HH vorstellen, wenn dieser seinem Engagement im hiesigen Varieté nachkommt. Diese beiden dürften sich viel zu erzählen haben. Nun denn, unserer Einsicht in die Akten der militärischen Chirurgenschule dürfte nichts entgegenstehen. Andrew wird statt meiner im Schatten des Abends gehen. Gut zu erreichen ist die Friedrichstraße über den Kaiser Wilhelm Straße, jene, die unseren verschwundenen Poet auf direktestem Wege zu seinen Studien gebracht haben dürfte. Mal sehen, was die Nachtvögel in den dortigen dunklen Nischen so für uns zwitschern.

PostScriptum: Das Wort macht die Runde, daß Hundrieser an einem Desmotes arbeitet. Ich werde mir einmal ansehen, welches Gesicht dieser seiner Entwürfe trägt … womöglich gibt es hier in Europa noch mehr Geheimnisse zu lösen. Und weitere Verschollene zu entdecken.

Unterwegs

Nur noch ein paar Tage.  Berlin. Lange habe ich die Stadt nicht gesehen. Werde ich sie wiedererkennen? Erwarten mich nur Unbekannte, oder dieselben Aufschneider und Sturköpfe?

Groß ist sie geworden, und aufregend, wie es heißt.  Twain schrieb, Chicago wäre alt im Vergleich zu Berlin. All die neuen Viertel.

Mein Quartier wurde mir von Bellinger empfohlen, das „Circus Hostel“ gleich am Brunnentor gelegen. Er empfahl es als britisch, weltoffen und angenehm. Amüsiert festgestellt, daß es gleich neben meiner alten Buchhandlung liegt. Sollte der Besitzer immer noch dieser eitle Silbenstecher sein, werden wir wohl keine Freunde mehr. Die hohe Kunst wollte er mir vorsingen, der alte Mann, und dass Frauen davon ja nichts verstünden. Die alten Hähne! Immerhin verdanke ich ihm die Idee der Verkleidung, was sich als sehr lohnend erwies. Vielleicht sollte ich ihm seinen Laden einfach abkaufen. Der Frack bleibt aber vorerst im Koffer.