Lieber Bellinger,
das „Frischlingsritual“ an der Pépinière war wie erwartet widerlich. Mit verbundenen Augen mußten die Erstsemester Menschen operieren – zumindest wurde ihnen das erzählt, als sie beherzt oder hasenfüßig begannen, in das Fleisch unter den weißen Laken zu schneiden.
Pépinière Studierzimmer um 1900
In der Eingangshalle an der Friedrichstraße 139 war ein langes Alkoholbüffet aufgebaut, an dem sich alle Mut antrinken sollten, wie der Vorsitzende des Corps, ein Viertsemester mit Schmiß aasig lächelnd vorschlug.
Danach wurden sie in 3er Gruppen in einen hinter der Galerie gelegenen Raum geführt, von wo die älteren Jahrgänge und Gäste wie wir zusehen durften, wie selbst die Mutigsten spätestens dann einknickten, als ihre vermeintlichen Operationsopfer anfingen zu schreien. In Wahrheit verbargen sich natürlich Schweinehälften unter den Laken und andere Studenten schrien, um die Erstsemester zu verunsichern.
Es gelang mir jedenfalls, mir Johans Akte unter den Nagel zu reißen – allerdings wurde ich erwischt und mußte mit Hellemann gemeinsam fliehen. Offengestanden gibt es noch eine kleine zeitliche Lücke, wir erwachten heute Morgen unter der Friedrichsbrücke, mein Anzug ist stark mitgenommen, sonst ist aber alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen, Bellinger!
Hellemann dürfte außerdem verstanden haben, daß Andrew Downing nur mein Alter Ego ist, ein Wagnis, das ich eingehen mußte. Aus der Akte (übrigens unter dem Namen Johan Breuch) ging nicht allzuviel hervor. Ein sehr talentierter Student, der 1891 urplötzlich verschwand – nachdem er Rudolf Virchow nachhaltig beeindruckt hatte. Virchow werde ich gleich noch treffen, Hellemann kennt ihn (natürlich…), und er hält jetzt einen Vortrag über „Die Medizin, die Scharlatane und das Nutzen von überprüfbaren Wissen“. Wir müssen los!
A.